Die Bitte des Bundespräsidenten um Vergebung

  • "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Dieser Satz steht für uns Deutsche ganz am Anfang.


    Es ist der erste Satz im ersten Artikel unserer Verfassung. Ein Satz, formuliert als Bollwerk gegen die Unmenschlichkeit. Dafür gab es guten Grund. Denn die Würde des Menschen war angetastet, geleugnet und verletzt worden – mit System und mit staatlichen Mitteln der Erniedrigung, Verfolgung, Folter und Mord, in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.


    Deutsche haben millionenfach in Deutschland und in ganz Europa Menschen verschleppt und ermordet. Deutsche haben ganze Landstriche verheert und dabei tiefe Wunden im Gesicht Europas hinterlassen. Unser Land hat in diesen zwölf Jahren schwere Schuld auf sich geladen.


    Es ist wahr: Das aufrichtige Erinnern an diese schreckliche Zeit, vor allen Dingen an die Opfer und ihr Leid, das ist uns Deutschen nie leichtgefallen, weder im Osten noch im Westen. Es war ein langer Weg. Der Mantel des Schweigens lag jahrzehntelang über den Abendbrottischen und erstickte jede notwendige Diskussion.


    Und ja: Irgendwann kam die Erinnerung dann doch nach Deutschland. Aber sie kam langsam. Sie kam etappenweise. Sie kam verspätet, oft viel zu spät.


    Heute ist die aufrichtige Erinnerung ein Eckstein unserer Identität. Leicht fällt sie uns trotzdem nicht. Viele Wunden von damals müssen noch weiter heilen. Viel zu oft gibt es auch heute wieder Anlass zur Wachsamkeit. Erinnern heißt auch: wach bleiben.


    Deshalb ist es richtig, wenn heute jeder Stadtspaziergang rund ums Brandenburger Tor an Orten der Erinnerung vorbeiführt. Alle vier Denkmäler wurden von Bürgern eingefordert, auch dieses hier. Politik und Staat ließen sich lange bitten. Lieber Albert Eckert, lieber Günter Dworek, Sie beide können davon stellvertretend für viele andere berichten.


    Auch dank der Arbeit der Stiftung sind diese vier Erinnerungsorte heute zu wichtigen Symbolen des modernen Deutschland geworden. Zu Symbolen eines Landes, das auch seine dunkelsten Momente kennt und sie zeigt. Eines Landes, das immer wieder an das ""Niemals wieder!"" denken möchte. Eines Landes also, das sich erinnern will.


    Heute erinnern wir uns an die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Wir gedenken der vielen zehntausend Menschen, deren Privatheit, deren Leben, deren Liebe, und ja, deren Würde auf niederträchtigste Weise angetastet, geleugnet und verletzt wurden.


    Wir gedenken der über 50.000 Männer, die nach dem nationalsozialistisch verschärften Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches verfolgt wurden. Sie wurden eingesperrt. Sie wurden vorgeführt. Ihre Existenzen wurden vernichtet. Man hat sie gefoltert, in Zuchthäuser und in Konzentrationslager geschickt. Tausende dieser Männer kamen ums Leben. Ihrer gedenken wir heute.


    Wir gedenken auch den anderen Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer sexuellen Identität von den Nazis verfolgt und schikaniert wurden. Manche litten unter dem allgemeinen Klima aus Hass und Verachtung, weil sie zum Beispiel lesbisch waren, inter- oder transsexuell. Andere kamen aus anderen Gründen ins Visier: als Juden, als sogenannte Asoziale, als Teil der Swingjugend, als Sozialisten und als Kommunisten – und doch auch aufgrund ihrer Sexualität. Ihnen allen wurde Leid zugefügt. All ihrer gedenken wir heute.


    Mit ihrem Hass wollten die Nationalsozialisten auch jene vielfältige Szene aus der deutschen Geschichte schneiden, die unser Land gerade im Berlin der Weimarer Jahre schon einmal bereichert hatte. Das geistige Erbe, die freiheitlichen Ideen von Karl Heinrich Ulrichs, von Johanna Elberskirchen und von Magnus Hirschfeld – sie galten als volksfeindlich und sollten wieder in der Kulisse verschwinden.


    Diesem Wahnsinn fielen Unzählige zum Opfer, unzählige Leben wurden aus der Spur geworfen. Es ist gut, dass wir uns heute an sie erinnern.



    Zu unserem Gedenken muss aber auch die Zeit nach 1945 gehören. Denn in der jungen Bundesrepublik, da gab es noch kaum jemanden in Politik und Justiz, der es besonders eilig damit hatte, das Erbe von Hirschfeld wiederherzustellen. Für all diejenigen, deren Sexualität schon vor 1945 als eine Straftat galt, für sie persönlich war der 8. Mai 1945 nicht wirklich ein Tag der Befreiung.


    Denn auch unter dem Grundgesetz waren sie weiterhin dem Paragraphen 175 ausgeliefert, wie auch in der DDR. In der Bundesrepublik galt er sogar – ganz bewusst, ganz mit Absicht – noch mehr als 20 Jahre in der gleichen scharfen Form fort, die ihm die Nationalsozialisten 1935 gegeben hatten.


    Mehr als 20 Jahre lang wurden zehntausende Männer in der Bundesrepublik noch nach dem Paragraphen 175 verhaftet, verurteilt und eingesperrt. Sie mussten sich weiter verstecken, wurden weiterhin bloßgestellt, haben weiterhin ihre wirtschaftliche Existenz riskiert. Oft genügte schon ein Ermittlungsverfahren.


    Die neue freiheitliche Ordnung in unserem Land, sie blieb über viele Jahre sehr unvollkommen. Die Würde dieser Männer, sie blieb antastbar. Zu lange hat es gedauert, bis auch ihre Würde etwas gezählt hat in Deutschland. Und die Jahre bis dahin, sie waren für Opfer und Aktivisten ein langer Weg, mit mühseligen Auseinandersetzungen.


    Der deutsche Staat hat all diesen Menschen schweres Leid zugefügt. Vor allen Dingen unter den Nationalsozialisten, aber auch danach noch, in der DDR und viel zu lange auch unter dem Grundgesetz. An ihr Leid erinnern wir uns heute.


    Sich zu korrigieren, sich ehrlich an die Geschichte zu erinnern – und sich nötigenfalls auch zu entschuldigen, wenn Unrecht geschehen ist: das sind große Stärken der Demokratie.


    Als Bundespräsident ist mir heute eines wichtig: Ihr Land hat Sie zu lange warten lassen. Wir sind spät dran. Was gegenüber anderen gesagt wurde, ist Ihnen bisher versagt geblieben. Deshalb bitte ich heute um Vergebung – für all das geschehene Leid und Unrecht, und für das lange Schweigen, das darauf folgte.


    Wahr ist auch: Unser Land hat dazugelernt. Ich sehe heute viele hier bei uns, die dafür seit Jahrzehnten mit all ihrer Kraft gesorgt haben. Ihnen ist es zu verdanken, dass das Erbe von Ulrichs, Elberskirchen und Hirschfeld trotz allem weiter gedeihen konnte. Ich finde, das ist gut für unser Land!


    Fast 50 Jahre nach Stonewall, bald 40 Jahre nach den ersten Christopher Street Days in Deutschland, 17 Jahre nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz und ein Jahr nach der Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts steht für mich fest: Sie, liebe Engagierte und politisch Bewegte, vor allen Dingen Sie haben viel erreicht. Darauf können Sie stolz sein, und ich hoffe, dass wir es heute auch gemeinsam sein können!


    Ihnen allen hier am Denkmal, und allen Schwulen, Lesben und Bisexuellen, allen Queers, Trans- und Intersexuellen in unserem Land, Ihnen allen rufe ich heute zu: Auch Ihre sexuelle Orientierung, auch Ihre sexuelle Identität stehen selbstverständlich unter dem Schutz unseres Staates. Auch Ihre Würde ist so selbstverständlich unantastbar, wie sie es schon ganz am Anfang hätte sein sollen.


    Wir alle wissen: Es gibt noch einiges zu tun. Wir können uns nicht zufrieden zurücklehnen, wenn homophobe Beleidigungen heute wie selbstverständlich auf dem Schulhof zu hören sind. Wenn wir mit trauriger Regelmäßigkeit engagierte Menschen aus anderen Ländern auszeichnen müssen, die für ihr Ringen um elementare Menschen- und Bürgerrechte Leib und Leben riskieren.


    Auch deshalb ist und bleibt es wichtig, dass wir immer wieder an unsere Gedenkorte kommen, dass wir hierherkommen, uns erinnern und im Erinnern unsere Verantwortung für das Heute erkennen.


    Wir sind es der Würde des Menschen schuldig.


    Vielen Dank.


    ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~ ~


    >>Der hier dokumentierte Text ist das vom Bundespräsidialamt verbreitete Redemanuskript Steinmeiers. Abweichend vom Original ging das Staatsoberhaupt beim Festakt zusätzlich indirekt auf die "Vogelschiss"-Äußerung des AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland ein, ohne ihn dabei namentlich zu nennen: "Wer heute diesen einzigartigen Bruch mit der Zivilisation leugnet, klein redet oder relativiert, verhöhnt nicht nur die Opfer, sondern will alte Wunden wieder aufreißen und sät neuen Hass. Dem müssen wir uns gemeinsam entgegenstellen."<<


    Aus: queer.de 3.6.2018

  • ...

    Auch deshalb ist und bleibt es wichtig, dass wir immer wieder an unsere Gedenkorte kommen, dass wir hierherkommen, uns erinnern und im Erinnern unsere Verantwortung für das Heute erkennen.


    Wir sind es der Würde des Menschen schuldig.

    ...

    Schade ist daran nur, dass sich solche Sätze immer die falschen zu Herzen nehmen - Diejenigen, die es nötig hätten, erreicht es nicht und damit kommt es eigentlich beim falschen Adressaten an. Diejenige, die an Gedenkorte gehen, um zu Erinnern, sind meistens auch Diejenigen, die sich mit den Opfern identifizieren oder Loyalität ausdrücken. Diejenigen, die genau das ganz bewusst nicht tun, sind in Wahrheit der Adressat, aber die wird man dort nicht finden.

    Schwachfug aus meinem Leben:


    Er: weißt du...
    Ich: weiß ich..?
    Er: weiß nich, weißt du?
    Ich: wir sind voll ahnungslos - aber hoffnungslos genial \o.o/

  • davon bekam ich nichts mit. war wohl keine grosse news hier.


    ich hab die rede nur halb gelesen, vielleicht, weil ich auch nur halb beeindruckt war.

    mir stösst es nämlich immer etwas auf, wenn eine minorität besonders bedacht wird.


    episch wäre eine solche rede für mich, wenn man alle opfer der nazi zeit auf eine ebene heben würde und um vergebung bitten würde. Ich hoffe er hat das ansatzweise auch gemacht, wenn nicht auf diesem event, dann wenigstens auf einem anderen.


    so ist das zwar eine gut formulierte rede, aber für mich nur etwas, was man aus dem zusammenhang gerissen hat.


    aber es heisst ja, nur die absicht zählt.


    mich berührt die bitte um, vergebung natürlich nicht, war nicht meine zeit, ich hatte nichts zu erleiden. es gab also nichts zu verdauen.



    hoffentlich hat die rede aber die etwas aufgebaut, die diese zeiten durchlebt und überlebt haben, mit allen ungerechtigkeiten, die ihnen noch jahrzehnte danach widerfuhren. und hoffentlich waren einige dazu in der lage zu vergeben.



    mehr kann ich hier ihnen von hier aus auch nicht wünschen.

  • An sich ist es meiner Meinung nach ein schöner und wichtiger Schritt, dass sich entschuldigt und um ''Vergebung gebeten'' wird.

    Finde es nur auch schade, dass der Fokus hier nur auf LGBTQI+ liegt..

    However: irgendwie hatte die Rede für mich auch so ein bisschen diesen religiösen Predikt-Unterton. (Bsp: Vergebung, gedenken und so weiter) den ich da auch komisch/fehl am platz fand' - sollte er allerdings dazu beitragen eben auch dieses ''kirchliche'' Publikum anzusprechen, dann chapeau