Kostbarkeit der Liebe

  • Nach wie vor wollen alle lieben und geliebt werden - auf dass die kleine Welt voller erregter Harmonie sei und die große in Ordnung. Alle sehnen sich nach kindlichen Paradiesen, die unsere Begriffe nicht zu erreichen vermögen. Offenbat ist nicht wonniger, als der Mutter nah zu sein.
    Doch alles ist riskannt. Zu große Nähe erstickt, und die Ferne macht Angst.
    Unsere Fähigkeit zu lieben ist eine Anpassungsleistung; sie geht auf Prozesse der Verbindung und Gewährens, des Trennens und Versagens zurück.Liebe und Sinnlichkeit gründen auf Einsamkeit und Gewalt ebenso wie auf kolossaler Wunscherfüllung und dem Eintauchen ins psychosomatische All.
    Sie sind real und irreal, pragmatisch und irrational.
    Das, was wir Liebe nennen, enthält einander entsprechende Strebungen. Repräsentiert die eine den Himmel für die Hölle des ersten Verhältnises zu einem Menschen. Folglich singen wir lebenslänglich ein hohes und ein niedriges Lied.
    Das hohe Lied der Liebe klingt bekanntlich so: Mein Geliebter ist leuchtend rot, auserkoren unter Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold, seine Locken sind rabenschwarze Dattelrispen, seine Augen sind wie die Augen der Taben an den Wasserbächen, mit Milch gewaschen und in Füllung stehend, seine Lippen sind Blumen, sein Leib ist ein Elfenbein, mit Saphieren geschmückt, sein Schenkel sind Alabastersäulen, gegründet auf goldenen Sockel. Alles an ihm ist Lust. Er ist ganz lieblich. Wenn er mich doch küsste mir den Küssen seines Mundes!
    Auch seine Brüste sind wie junge Rehe, die unter Rosen weiden. Doch als er ihn küssen will mit den Küssen seiner Rosen, sind sie alle im Garten der Lust versigelt; Milch und Honig, all die edlen Früchte des Weihrauchs, die ihm das Herz genommen haben. Der Geliebte ist eine verschlossene Quelle, ein versigeltes Born lebendiges Wasser. So begann das niedere Lied der Liebe bereits vor Jahrtausenden, seine Verse zu suchen.


    Heute können wir sie alle im Schlaf hersingen, weil die Liebenden des salomonischen Lieds der Lieder keine Pioniere mehr sind. Seit es unser Individium gibt, jedenfals aud dem Papier, sollen wir wie Daphnis sein oder wie Cloó. Auf den Schlachtbänken, die zwischen uns und den antiken Bürgern liegen, wurde ein neuer sittlicher Maßstab errichtet: Liebe als freie Übereinkunft autonomer Supjekte, als ein Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau,ebenso erregend wie gewissenhaft. Diese Idee von der freien gleichen, individuellen Geschlechtsliebe, die die Bourgeoisie zur allgemeinen erhoben hat, geht es im alltäglichen Leben , jenseits der Romane und Taktate, unablässlich an den Kragen.
    Alle ahnen: Paarbildungen, in welcher Form auch immer, garantieren keinensicheren Unterschlupf. Umso verbisssener wird es versucht. Und stellt sich die Liebe ein, muss um den Erhalt dieserEinzigartigkeit, dieser Kosbarkeit in der Welt der Virtualitäten und Käuflichkeiten gekämpft werden - gegen die allgemeine Tentenz zur Verhinderung und gegen die Mystifaktion.