• Ich will einen kleinen Umweg machen, um zum Thema zu kommen und kurz etwas zu meinem Werdegang erzählen.

    Schon in anderen Beiträgen hatte ich erwähnt, dass ich schon in meiner frühen Jugend einen ungewöhnlichen Hang zum Weiblichen hatte. Oft habe ich heimlich die Sachen meiner älteren Schwester getragen und vor dem Spiegel bewundert, wie mädchenhaft ich aussehe. Das war lange vor meiner Pubertät. In der Schule hatte ich meinen Platz zwischen den Mädchen gefunden. Mädchen und Jungen saßen damals getrennt, obwohl es keine Sitzordnung gab. Manche Lehrer haben mir auch scherzhaft einen weiblichen Spitznamen gegeben, indem sie meinen Namen mit ‚-hilde‘ oder ‚-line‘ vervollständigt haben. Also habe ich mich schon früh von meinen ‚Geschlechtsgenossen‘ unterschieden.

    Aber zu der Zeit als ich aufgewachsen bin gab es noch keine öffentliche Diskussion über Geschlechtsidentität. Das Weltbild was binär! Also habe ich meinen Gefühlen keine besondere Beachtung geschenkt. Ungeachtet dessen hatte ich dann in der Pubertät häufig sexuellen Kontakt zu Gleichgeschlechtlichen. Das ist eigentlich auch nicht ungewöhnlich. Später hatte ich dann meine erste Freundin und alles schien ‚normal‘ zu werden. Allerdings zogen mich immer noch beide Geschlechter sexuell an. Das habe ich lange Zeit verdrängt und verheimlicht. Homosexualität war zwar in der Zeit nicht mehr gesetzlich verboten aber der §175 wurde erst 1994 endgültig abgeschafft. Die Gesellschaft braucht aber immer etwas mehr Zeit, um Toleranz zu entwickeln. Schwul sein war also immer noch tabuisiert. Ich habe mich schlecht und krank gefühlt und konnte meine Sexualität nicht entfalten, weil diese nicht so recht zu den gesellschaftlichen Anforderungen passte. Nun ja, rückblickend würde ich sagen, ich habe meine Vorstellungen vom gesellschaftlichen Weltbild zu meinen eigenen Anforderungen an mich selbst gemacht. Ich habe darunter gelitten diese Anforderungen nicht mit meiner Gefühlswelt in Einklang bringen zu können. Noch in meiner Pubertät hatte ich dann eine Sucht entwickelt. Zunächst Alkohol, dann Gras und später auch Benzos. Die Pubertät hatte sich dadurch ziemlich verschleppt in eine lange postpubertäre Phase. Das meine sexuelle Verwirrtheit (heute würde man wahrscheinlich Gender- Dysphorie sagen) der alleinige Auslöser der Sucht war glaube ich eigentlich nicht. Ist mittlerweile auch vollkommen gleichgültig.


    Dann habe ich die erste stationäre Suchttherapie gemacht und mich prompt in einen anderen Mann verliebt. Jetzt war es zum ersten Mal ein tiefes romantisches Gefühl zu einem Gleichgeschlechtlichen. Das war dann natürlich auch Thema in der Therapie, denn wir haben unsere Gefühle auch öffentlich gelebt. Naja, eigentlich war es zunächst nur in dem geschützten Raum der Therapieeinrichtung. Aber eine gute Gelegenheit für mich, mich mit meiner Sexualität auseinander zu setzten. Ich habe mich dann als schwul kategorisiert und nach der Therapie auch öffentlich geoutet.

    Meine feminine Gefühlswelt habe ich fortan also mit meiner Homosexualität begründen können. Aber der Hang Frauenklamotten zu tragen blieb bestehen und verheimlicht. Ich war ja keine ‚Transe‘ oder doch? In der Zeit gab es immer noch kein mir bekanntes öffentliches Bewusstsein für eine wie auch immer geartete Zwischengeschlechtlichkeit oder -Identität. Es gab Heteros, es gab Schwule oder Lesbische und Transen. Man konnte natürlich auch bisexuell sein. Aber all das waren sexuelle Orientierungen und keine Identitäten. Über sexuelle Identität habe ich damals nicht nachgedacht.

    Es folgte eine weitere Therapie, in der meine vermeintliche Homosexualität wieder zum Thema wurde. Eine Klärung meiner Sucht und Geschlechtsidentität war aber wieder eine Fehlanzeige. Mein Gott, es wurde viel in der Vergangenheit gewühlt, Trainings zur Steigerung des Selbstvertrauens absolviert, familiäre Beziehungen wurden beleuchtet und Freundschaften und Sexualität und und und…


    Dann habe ich ‚aus Verzweiflung‘ eine Frau geheiratet und mir vorgenommen alles Vergangene hinter mir zu lassen, um ein neues Leben zu beginnen. Aber mittlerweile hatte ich mich als bisexuell klassifiziert. Meine Vorliebe feminin zu sein blieb aber leider bestehen.

    Es folgte eine dritte Therapie, die eigentlich eher unspektakulär und entspannt ablief. Für mein Empfinden war der verhaltenstherapeutische Ansatz eigentlich zu lasch. Aber im Anschluss an diese Therapie habe ich erstmalig ernsthaft mit meiner geschlechtlichen Identität auseinandergesetzt. Heute leben wir ja in einer Zeit, in der wissenschaftlich die binären Grenzen aufgelöst wurden und auch allmählig gesellschaftlich anerkannt wird, dass es zwischen den Geschlechtern Räume gibt, die besetzt werden können.

    Ich habe mich also jetzt als ein Mensch geoutet, der sich mit beiden Geschlechtern identifiziert und sich von beiden Geschlechtern gleichermaßen angezogen fühlt. Für mich ist es keine Frage der Kategorie, der ich vermeintlich angehöre, sondern eine Frage des Zulassens. Damit meine ich meine innere Akzeptanz. Kann ich für mich meine geschlechtliche Identität akzeptieren? Bin ich bereit dies auch öffentlich zu leben? Und für Wahr, die Konsequenzen sich heutzutage zu outen sind nicht vergleichbar mit denen vor 30 Jahren. Trotz -oder wegen- meines fortgeschrittenen Alters und einer gewissen Lebenserfahrung bin ich davon überzeugt, dass sich diese geschlechtliche Identität verändern kann. Sie ist ebenso wenig statisch wie das Leben selbst.


    Bevor ich jetzt zu meiner eigentlichen Verwirrung komme: Meiner Überzeugung nach sind die meisten Menschen sexuell nicht binär. Wir alle trage Anima und Animus in uns. Es ist eine Frage der bewussten oder unbewussten Entscheidung und Akzeptanz jedes Individuums welche geschlechtliche Rolle man einnimmt. Heterosexuelle spüren den Gegenpol möglicherweise nicht so intensiv oder verdrängen ihn. Vermeintliche oder tatsächliche gesellschaftliche Erwartungen und Normen tragen zu dieser Entscheidung bei. Menschen mit einer großen Ambivalenz zwischen gefühlter Geschlechtsidentität und physischem Geschlecht leiden natürlich nicht nur der gesellschaftlichen Wertvorstellung wegen.


    Jetzt zur Verwirrung: Wie viele Unterscheidungen oder Schubladen braucht die Gesellschaft? Mir wird regelmäßig schwindelig und ich bin desorientiert und glaube Garnichts verstanden zu haben, wenn ich so im Internet nach geschlechtlicher Orientierung surfe. Es gab mal zwei dann drei Schubladen. Ganz übersichtlich aber durchaus lebensfremd. Ich weiß aber heutzutage nicht in welche Lade ich jetzt reinpasse. Bin ich genderfluid oder einfach nur nicht-binär? Oder doch eher bigender oder vielleicht auch agender?

    Ich für meinen Teil will in keine Kategorie eingeordnet werden. Die Menschen sind so vielfältig und individuell, dass wir uns gar nicht genügend Kategorien ausdenken können. Und das ist gut so. Überschneidungen zwischen diesen erdachten Kategorien wird es immer geben. Egal wie viele Einteilungen es gibt. Und je höher die Auflösung wird, je unschärfer wird das Ergebnis.

    Ich habe also etwas die Befürchtung, gerade Menschen, die auf der Suche nach ihrer Identität sind, wollen sich also in eine Schublade hineinzwängen. Man will doch zu irgendeiner Gruppe dazu gehören. So sind Menschen nun mal gestrickt. Irgendwie kann es dann wieder zu eine gesellschaftlichen Norn werden.


    Eines kann ich von mir nun wirklich behaupten: Ich bin gender-nonkonform. Und wenn es das nicht mehr gibt, wird sich die Gesellschaft befreit haben. Dann wird es überflüssig sein sich zu ‚outen‘, weil es selbstverständlich sein wird, eine individuelle Geschlechtsidentität zu haben.


    Ich freue mich auf eure Meinungen, Anregungen, Denkanstöße


    Mit nonkonformen Grüßen Eure Lakisha 🤔